Schrott schreibt Geschichte

Im Zeitraum von Dezember 2014 bis Juli 2016 begleiteten die archäologischen Forschungstaucher Jörg Ewersen und Frederik Feulner von Terra Mare im Auftrage des Landesverband für Unterwasserarchäologie M/V e.V. die Arbeiten zur Beräumung der Baufelder für die Seekabeltrasse „Westlicher Adlergrund“ zwischen Rügen und Bornholm. Hierbei förderten die Mitarbeiter der Munitions- und Kampfmittelbeseitigung auch eine große Zahl an kulturhistorisch wertvollen Objekte aus einer Zeitspanne zwischen der Hanse bis in die Neuzeit ans Tageslicht.

Die archäologische Baubegleitung umfasste zunächst unterwasserarchäologischen Untersuchungen im küstennahen Raum. Während dieser Unterwasserarbeiten wurden speziell vorab bekannte Fundkoordinaten angetaucht und überprüft. Im Anschluss daran folgte die archäologische Begleitung der Kampfmittelberäumung im Offshore-Raum mit Hilfe eines sogenannten ROV, eines von einem Trägerschiff aus ferngelenkten Unterwasserroboters. Die Aufgabe des von Bord aus gelenkten ROV war es, mit Hilfe von Detektoren Metallfunde aufzuspüren und abzubergen. Hierbei wurden nicht nur Kampfmittel vom Grund der Ostsee geborgen, der ROV spürte zudem eine ganze Reihe von archäologischen Funden auf, die in die Zeit vom 13. Jahrhundert bis zur frühen Neuzeit reichen. Zu diesen Funden gehören Schiffsteilen wie Petroleum betriebenen Positionslaternen, Reste abgeschossener alliierter Bomber, historische Schiffsbriketts, Teile von Kupferbeschlägen historischer Schiffsrümpfe, hansezeitliche Stockanker sowie einer Schleuße, einer Art Schürhaken aus der Zeit der Dampfschifffahrt, die heute im Flensburger Schifffahrtsmuseum eingelagert ist.

Laterne Anker
Links: Bergung einer Schiffslaterne aus dem 19. Jahrhundert. Eine weitere Aufnahme finden Sie hier. Rechts: Abbergen eines hansezeitlichen Ankerstocks. Oberhalb des Stocks erkennt man die Reste des mit Gewebe umwickelten Ankerringes(Fotos Ewersen).

Historisch von besonderer Bedeutung waren und sind die Ankerfunde aus der Zeit der Städtehanse, die den dendrochronologischen Datierungen nach bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Diese Ankerfunde bieten nicht nur die Möglichkeit einer genauen zeitlichen Einordnung, wie beispielsweise ein Ankerstock zeigt. Für dessen Herstellung wurde eine Eiche um 1297 gefällt. Diese Anker gaben zudem Informationen zur typologischen Entwicklung, da die Ankerstöcke einmal und die Anker insgesamt im Laufe der Zeit deutlichen Veränderungen unterlagen (Ewersen in Vorb.). Zudem können einige eingeschnitzte Zeichen auf den Ankern helfen, sie direkt Eignern oder hanseatischen Kaufleuten zuzuordnen.

Ein besonderes Highlight lag mit den Funden von drei sogenannten Warzengeschossen vor, da deren Bauart nach weitergehenden Recherchen von Terra Mare offensichtlich einmalig ist (Ewersen/Winkel in Vorb.). Warzengeschosse wurden für die Artillerie um die Mitte des 19. Jhd. als Vorstufe für Geschütze mit gezogenen Läufen entwickelt und stellen damit einen neuen historisch-technischen Entwicklungsschritt zur höheren Treffgenauigkeit von Kanonen dar.

Granate
HS293.jpg
Abbildung links : Warzengeschoss aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In der Mitte sind zwei der scheibenförmigen Führungswarzen zu sehen (Foto K. Schaake). Abbildung rechts: Korpus der Henschel Hs 293 nach der Bergung. Im hinteren Teil der Gleitbombe ist die Steuerelektrik zu erkennen (Foto Ewersen).

Der letzte Bauabschnitt betraf wiederum die Flachwasser-Lose im Küstenraum Rügens und im Greifswalder Bodden. Dort wurde die Kampfmittelbergung von Berufstauchern vorgenommen, deren Einsatz auch mit Lebensgefahr verbunden war, da sich weite Teile des Baufeldes unmittelbar vor der Heeres- und Luftwaffenversuchsanstalt Peenemünde befanden. Das Spektrum der zu berücksichtigen Funde reichte dort bis an die Neuzeit heran. Zu den zahlreichen Funden gehörten neben spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schiffswracks auch Teile der Gleitbombe Henschel Hs 293 sowie ein ausgesprochen seltener Lufttorpedo Hs 294, von dem in den Jahren um 1940 kaum 100 Stück angefertigt wurden. Des Weiteren wurde aus der gleichen Zeit eine Luft-Luft-Rakete vom Typ Kramer X4 geborgen, die bereits Anfang 40er Jahre über eine Drahtlenkung mit einer Reichweite von über fünf Kilometer verfügte. Von diesem Luftkampfmittel dürften weltweit – soweit bekannt – kaum mehr als zehn Exemplare in verschiedenen Museen ausgestellt sein. Auch Reste der Fieseler Fi 103, besser bekannt als V1, kamen bei den Arbeiten an die Wasseroberfläche. Unter anderem fand man ein Luftlog, ein Zählwerk, das der Flugsteuerung dient und mit dessen Hilfe sich der Absturz der Fi 103 auf einen Zeitraum im zeitigen Frühjahr 1943 eingrenzen ließ (Ewersen in Vorb.).

Insgesamt verdeutlichte die archäologische Baubegleitung der Unterwasserbaumaßnahme, dass vielfach der geborgene „Schrott“ mehr kulturhistorische Informationen enthielt, als man gemeinhin hatte vermuten können. Dieser „Schrott“ trägt daher bei einer diffizilen Betrachtung einen wertvollen Beitrag zur Geschichtsschreibung mit bei (Gesellschaft für Schleswiger Stadtgeschichte).